Objektkunst: Jenseits der Malerei

Objektkunst: Jenseits der Malerei
Objektkunst: Jenseits der Malerei
 
Marcel Duchamp prägte die Kunst des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Künstler, mit Ausnahme vielleicht von Pablo Picasso. Dabei war Duchamp kein virtuoser Maler oder Bildhauer, sondern ein intellektueller Asket, der die Leidenschaft des Geistes in der Durchbrechung von Konventionen und im Erlebnis des Schocks suchte. Bereits 1912, als junger Mann von 25 Jahren, hatte Duchamp alle neuen Stilrichtungen seiner Zeit durchlaufen, ohne dass ihn die moderne Malerei wirklich gefesselt hätte. Mehr als die Künstlerfehden zwischen Kubisten und Futuristen oder die Intrigen bei der Bildauswahl für die Pariser Salons interessierten ihn die endlosen Diskussionen über die vierte Dimension und die nichteuklidische Geometrie im Haus seines Bruders Raymond in Puteaux nahe Paris. Ähnlich fasziniert war Duchamp von den kühnen Sprachexperimenten Raymond Roussels und Guillaume Apollinaires, der ihn in das Labyrinth der Pariser Kunstszene eingeführt hatte.
 
Als Duchamp einer Einladung Walter Pachs folgte und 1915 in New York eintraf, galt er wegen des skandalösen Erfolgs seiner Bilder auf der »Armory Show« von 1913, der ersten umfassenden Ausstellung moderner europäischer Kunst in den USA, bereits als geheimnisumwitterter, genialer Künstler. So ist es kein Wunder, dass sich hier um Duchamp und den mit ihm befreundeten Francis Picabia die neuen Künstlerkreise formierten, vor allem der amerikanische Ableger der Dada-Bewegung. Treffpunkt des New Yorker Dada war die Galerie »291« des Fotografen Alfred Stieglitz und die Wohnung von Walter Arensberg und seiner Frau - Kunstfreunde und Mäzene, die Duchamp, dessen Werke sich praktisch nicht verkaufen ließen, über Jahre hinweg unterstützten. In New York arbeitete Duchamp noch einige Jahre an seinem in Paris begonnenen Hauptwerk weiter, dem »Großen Glas«, bis er es 1923 vor seiner Rückkehr nach Frankreich als endgültig »unvollendet« erklärte.
 
Nur ein New Yorker Künstler war ähnlich wie Duchamp an so weit gehenden Überschreitungen der Grenzen herkömmlicher Kunstgattungen interessiert: Man Ray. Seine Collagen sind stilistisch vom Kubismus, thematisch vom Geist des Dada inspiriert; beide Strömungen hatte er durch die »Armory Show« und durch den Kontakt mit Duchamp kennen gelernt. Wie Duchamp war aber auch Man Ray bald des lästigen Pinsels überdrüssig; er wandte sich surrealen Objekten und der Fotografie zu, in der er mit neuartigen Belichtungsexperimenten, den »Rayogrammen«, aber auch mit rätselhaften Aktdarstellungen Aufsehen erregte. Mit einer verpackten und verschnürten Nähmaschine nahm er Christos Verhüllungskünste um Jahrzehnte vorweg. Man Ray experimentierte auch mit Aerographien: Mit einer Spritzpistole sprühte er Farbe über Matritzen und Schablonen auf die Leinwand. In der Durchdringung der Formen und der fein abgestuften Monochromie erinnern diese Bilder an den analytischen Kubismus, dessen Vokabular Man Ray immer dann aufgriff, wenn er Struktur und Bewegung vereinen wollte.
 
Man Ray machte auch das berühmte Foto, das Duchamp als Frau verkleidet zeigt, als »Rose Sélavy«. Mit diesem Pseudonym signierte Duchamp einige seiner folgenden Kunstwerke, so auch die Postkarte mit einer Abbildung der »Mona Lisa« Leonardo da Vincis, die er mit einem Schnurrbart und der verklausulierten Phrase L.H.O.O.Q. - in französischer Sprache zu lesen als »Elle a chaud au cul« (»Sie hat einen heißen Hintern«) - verzierte. Solche »Readymades« - handelsübliche Gegenstände, die er unverändert als Kunstwerke ausstellte - hatte Duchamp bereits in Paris geschaffen, als er, angeregt durch die Manifeste der Futuristen, nach neuen Ausdrucksmitteln suchte. In New York entstanden dann mit einfachen Mitteln weitere Readymades.
 
In den Dadaisten- und Surrealistenkreisen wurde Duchamp hoch verehrt. Dennoch weigerte er sich, am offiziellen Kunstbetrieb teilzunehmen, und er bestritt stattdessen Schachmeisterschaften oder schrieb Schachbücher. Diese künstlerische Abstinenz unterbrach er erst 1934 wieder, als er beschloss, alle Notizen und Skizzen, die zur Entstehung des »Großen Glases« geführt hatten, zu sammeln und zu publizieren (»Die Grüne Schachtel«, 1934). Wenig später gab er dann seine wichtigsten Werke - Bilder, Readymades, Notizen zum »Großen Glas«, das »Große Glas« selbst - als Miniaturen und Faksimiles in einer aufklappbaren Schachtel heraus (»Die Schachtel im Koffer«, 1935-41). Während sich Duchamp bis zu seinem Lebensende auf wenige öffentliche Auftritte beschränkte, gingen seine Werke um die Welt und begründeten seinen Ruf, einer der einflussreichsten Anreger der Kunst des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein.
 
Dr. Hajo Düchting
 
 
Feist, Peter H.: Figur und Objekt. Plastik im 20. Jahrhundert. Eine Einführung und 200 Biographien. Leipzig 1996.
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 
Skulptur im 20. Jahrhundert. Figur — Raumkonstruktion — Prozeß, herausgegeben von Margit Rowell. Ausstellungskatalog Centre Georges Pompidou, Musée National d'Art Moderne, Paris. Aus dem Französischen. München 1986.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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